Im Provenienzforschungsprojekt zu NS-Raubgut lenkte das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig von 2019 bis 2022 den Blick auf ein dunkleres Kapitel der Museumsgeschichte und widmete sich den Erwerbungen zwischen 1933 und 1945, prüfte insgesamt 323 Kunstwerke auf möglichen unrechtmäßigen Erwerb. Eine Publikation stellt nun die Ergebnisse vor. Die Provenienzforschung zu ausgewählten Beständen dieser Zeit wird ab Dezember 2022 in einem neuen Projekt fortgeführt.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde die zuvor geltende gesellschaftliche Ordnung vollkommen ausgehebelt. Durch die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, politischen Gegnern, Sinti und Roma, „Asozialen“ und Homosexuellen setzte nach kurzer Zeit auch eine Welle der Enteignungen ein. Davon profitierten nicht nur die Auktionshäuser oder der Kunsthandel, sondern auch die kulturbewahrenden Institutionen der Museen.
Im – durch das Zentrum für Kulturgutverluste geförderten – Projekt »Provenienzrecherchen im Sammlungsbereich Kunst und Kunsthandwerk des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig für die Erwerbungen zwischen 1933 und 1945« untersuchte das Museum die Biografien der Einliefernden, sowie die Netzwerke des Leipziger Kunsthandels und die Beziehungen zu den städtischen Ämtern. Darüber hinaus sind die Erwerbungen jener Zeit, etwa Schenkungen, Ankäufe im Rahmen von Auktionen, Überweisungen oder Tauschgeschäfte von Kunstwerken, systematisch und proaktiv gesichtet worden, um NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter zu identifizieren. Bei sieben Objekten wurde festgestellt, dass eindeutig ein NS-verfolgungsbedingter Entzug vorliegt. Eine Erwerbung 1941 beim Versteigerungshaus Hans Klemm deutete unmittelbar auf NS-Raubkunst hin. Fünf weitere Werke weisen aufgrund von Vereinsauflösungen und den damit verbundenen Zuweisungen ins Museum oder Ankäufen im Kunsthandel auf eine bedenkliche Herkunft hin. Alle Forschungsergebnisse sind in der Museums-Sammlungsdatenbank www.stadtmuseum.leipzig.de sowie in der Lost Art-Datenbank im Falle von bedenkenswerten Provenienzen öffentlich einsehbar.
Die Publikation »Vergessene Rück(an)sichten« rückt nun die einst übersehenen Kunstwerke ins Blickfeld: Ein Einstieg ist durch die Vorstellung der Museumsgeschichte und den Überblick der Ausstellungen zwischen 1933 und 1940 gegeben. Ein Teil der Erwerbungen und ausgewählte Forschungsaspekte werden dargestellt, darunter u. a. die Aufklärung einer Irreführung im Falle des Künstlers Emil Büchner und seiner angeheirateten Familie Polich. Die Vorstellung der Kunsthandlung Curt Naubert und C.G. Boerner stehen stellvertretend für den damaligen Leipziger Kunsthandel. In weiteren Beiträgen wird sich mit der Sammelleidenschaft von Privatpersonen auseinandergesetzt, der Blick auf frühere Ausstellungen als wertvolle Quelle der Provenienzforschung gerichtet und sich der Aufklärung einer bedenklichen Provenienz in der Museumsbibliothek gewidmet. Exemplarisch wird zudem eine bereits erfolgte Restitution der Sammlung von Karl Rudolf Bromme, darunter Abzeichen, Bücher, Spiele und Gegenstände der Alltagskultur, aus dem Jahr 2006 vorgestellt. Details zu ihrer Arbeit stellt die Restauratorin Franziska Lipp, die das Projekt bei der Untersuchung der Kunstwerke maßgeblich unterstützt hat, in einem Interview vor. Zudem werden die Intention und Umsetzung des realisierten pädagogischen Angebotes für Jugendliche beschrieben. Ein Glossar erläutert abschließend die Fachbegriffe der Provenienzforschung.
„Provenienzforschung ist für uns ein zentraler Bestandteil einer kritischen Sammlungsgeschichte, die ganz viel zeithistorisches Material zu den Verstrickungen und Spielräumen der Beteiligten bereitstellt. Es war uns deshalb wichtig, die Ergebnisse des Projekts nicht allein in einem wissenschaftlichen Arbeitsbericht darzustellen, sondern auch eine gut lesbare Publikumsveröffentlichung vorzulegen, die gleichermaßen Einblicke in die Stadt- und Museumsgeschichte ermöglicht“, so Dr. Anselm Hartinger, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig.
Die systematische Provenienzforschung und die Prüfung von Erwerbungen, die in einem Zusammenhang mit NS-Raubgut stehen, werden in einem weiteren Forschungsprojekt durch die Provenienzforscherin Lina Frubrich ab Dezember 2022 fortgesetzt. Das gesamte Forschungsvorhaben umfasst dabei sammlungsübergreifend die Bereiche Kunst/Kunsthandwerk, Fotothek, Alltagskultur/Volkskunde und Bibliothek. Es werden die Provenienzen von insgesamt 43 Erwerbungen recherchiert. Das Forschungsprojekt wird vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert.