Das Filmprogramm von DOK Leipzig findet 2021 vollständig in den Leipziger Kinos statt und setzt wieder verstärkt filmhistorische Akzente. So zeigt das Festival in diesem Jahr eine Retrospektive sowie zwei Matineen, die 2020 noch verschoben werden mussten. Weitere Filmreihen neben den Wettbewerben erkunden die Schnittstellen zwischen Animationskunst und Musikgeschichte, stellen herausragende Filmkünstler*innen in den Fokus und bieten spannende Entdeckungen für Kinder und Jugendliche.
Mehrere Programme beschäftigen sich 2021 mit dem Komplex Erinnerung, Aufarbeitung und Gedenken. Für 2020 geplant, in der Hybrid-Ausgabe jedoch nicht zu realisieren, läuft die Retrospektive nun in der diesjährigen Festival-Edition. Unter dem Titel „Die Juden der Anderen. Geteiltes Deutschland, verteilte Schuld, zerteilte Bilder“ spannt sie einen historischen Bogen vom nationalsozialistischen Propagandafilm Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944) bis zum Dokumentarfilm Das leere Haus (2004) über den Widerstand der Nachbarschaft gegen ein jüdisches Gemeindezentrum im prosperierenden Leipzig nach der Jahrtausendwende.
Der Titel der Reihe verweist auf Zuschreibungen des Jüdischseins und die Auseinandersetzung mit der Shoah in deutschen und deutschsprachigen Filmproduktionen, insbesondere während der Jahre der Teilung. Wie blickten die zwei neuen deutschen Republiken auf die alte gemeinsame Schuld? Welche ideologischen und gesellschaftlichen Prämissen prägten diesen Blick? Diese Fragen stellen sich etwa in Bezug auf die DDR-TV-Produktion Aktion J (1961) von Walter Heynowski über die NS-Vergangenheit des bundesrepublikanischen Staatssekretärs Hans Globke oder den westdeutschen Kurzdokumentarfilm Es muß ein Stück vom Hitler sein (1963), in dem Walter Krüttner den Obersalzberg-Tourismus der Nachkriegszeit bissig kommentiert. Zu allen Filmgesprächen sind Gäste mit (film-) historischer Expertise geladen.
„Im Grunde erzählen wir von Aneignungen, in Bezug auf historisches Material, aber auch auf jüdisches Leiden“, erläutert Kuratorin Sylvia Görke. „Harun Farocki sprach einmal von Bildern, die gegen sich selbst aussagen sollen“, so Co-Kurator Ralph Eue. „Dieser Gedanke hat uns bei der Auswahl und kontrapunktischen Zusammenstellung der Filme immer wieder beschäftigt“.
Die Retrospektive wird gefördert durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Während der Festivalwoche wird die Reihe durch die Studienpräsentation „Eichmann und der Kalte Krieg im deutsch-deutschen Fernsehen“ ergänzt. Die Matinee Sächsisches Staatsarchiv bietet mit lokalen Filmbeispielen zur DDR-Gedenkkultur an die nationalsozialistische Vergangenheit ebenfalls Bezüge zum Thema.
Die Hommage der 64. Festivalausgabe ist dem israelischen Filmemacher Avi Mograbi gewidmet. Der renommierte Dokumentarfilmregisseur besitzt auch eine familiäre Verbindung zur Stadt: Mograbis Mutter floh im Kindesalter vor den Nationalsozialisten von Leipzig nach Palästina. Mit Once I Entered a Garden, Z32 und The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation werden drei Werke präsentiert, in denen sich Mograbi auf ironisch-kritische Weise mit Israels Politik im Nahostkonflikt auseinandersetzt. In einer Meisterklasse wird er speziell auf seine Form der dokumentarischen Selbstinszenierung eingehen.
Zu einer weiteren Meisterklasse unter dem Titel „Der Schnitt macht den Film“ hat DOK Leipzig die renommierte Cutterin Mary Stephen eingeladen. Sie wird Nude at Heart, ihre eigene Schnittfassung des Films Odoriko von Yoichiro Okutani vorstellen. Wie entstehen aus demselben dokumentarischen Rohmaterial zwei Filme mit völlig verschiedener künstlerischer Handschrift? Im Gegenüber von Director’s Cut und Editor’s Cut wird Mary Stephen über die Rolle einer Editorin sprechen – zwischen dienstbarem Handwerk und kreativer Co-Autor*innenschaft.
Auf die DEFA Matinee zu Ehren von Kurt Tetzlaff gab es 2020 bereits einen Vorgeschmack. In diesem Jahr wird in Kooperation mit der DEFA-Stiftung das Programm „Kurt Tetzlaff – Protokolle aus der Umbruchszeit“ realisiert. In einem Double-Feature sind ein Kurzfilm sowie zwei Langfilme des Regisseurs zu sehen, darunter seine letzten beiden DEFA-Produktionen Im Durchgang – Protokoll für das Gedächtnis (1990) und Im Übergang – Protokoll einer Hoffnung (1991). Mehrfach war Tetzlaff mit seinen Arbeiten in Leipzig und gewann 1975 eine Silberne Taube. In der DDR wurde manchen Filmen des Regisseurs eine Vorführung auf dem Festival verwehrt. Dennoch war DOK Leipzig für Tetzlaff stets „die Begegnung mit der Welt“. Von 1973 bis 1989 gehörte er selbst dem Festivalkomitee an.
Mit der Reihe Re-Visionen blickt DOK Leipzig auch in diesem Jahr aus gegenwärtiger Perspektive in die eigene Festivalgeschichte. Der 1995 prämierte Archivfilm Mother Dao, the Turtlelike collagiert Bild- und Tondokumente über die niederländische Kolonialgeschichte in Indonesien. Der Film erhält eine Wiederaufführung – und der Regisseur Vincent Monnikendam die Silberne Taube, die ihn damals per Post nicht erreichte.
Das Animationsfilmprogramm Partikel in neuer Gestalt – Animation und Musique concrète führt als Streifzug durch Popkultur, Forschungs- und Klanglabore bis in die Innenwelten von Mensch und Maschine. „Zusammen mit dem Publikum möchten wir lustvoll in den wohl am meisten schimmernden Abteilungen der Mediengeschichte stöbern“, kündigen André Eckardt und Co-Kuratorin Cornelia Friederike Müller aka CFM an. „Wir wollen erkunden, wie wesensverwandt Animation und elektronische Musik sind.“
Beide Kunstformen haben herkömmliche Aufnahmetechniken von Beginn an manipuliert und weiterentwickelt: Es wurde geloopt, verformt, verlangsamt und beschleunigt, rück- und vorwärts gespielt und neu montiert. Die drei Programme der Filmreihe vereinen Oscar-gekrönte Animationsfilme, Kultphänomene der Popkultur wie die TV-Serie The Shadoks und Musikrevolutionen von Musique-concrète-Komponistinnen, Björk, Matmos und Max Cooper. Zusätzlich geben die beiden Leipziger Künstlerinnen Connie Walker aka CFM und SAOU TV ein audio-visuelles Live-Konzert.
In der Reihe Animation Perspectives treten erneut zwei Filmschaffende mit ihren Arbeiten in einen künstlerischen Dialog. Die Video- und Fotokünstlerinnen Claudia Larcher und Randa Maroufi verbindet der Einsatz von subtilen, teils versteckten Animationstechniken. Mit virtuellen Kamerabewegungen, Fotocollagen oder Tableaux vivants entstehen Übergangswelten, die einen eigenwilligen Blick auf soziale Räume ermöglichen. So erkundet Larcher etwa in Heim Lebensspuren im Haus ihrer Eltern, während Maroufi in The Park die kreativen Posen von Jugendlichen mit dem 360°-Kamerablick zu halblebendigen Skulpturen einfriert. Beide Künstlerinnen waren zuvor bereits bei DOK Leipzig zu Gast. Kuratiert von André Eckardt, widmet sich die Reihe Animation Perspectives im dritten Jahr Randphänomenen der Animationskunst.
Die ganze Bandbreite der Animation wie auch des Dokumentarischen bietet DOK Leipzig auch jüngsten Filmfans. In der Reihe Kids DOK zeigt das Festival fünf Programme für das Publikum ab 5, ab 8, ab 10, ab 12 und ab 14 Jahren. „Ich bin begeistert, wie ernst Kinder und Jugendliche in diesen Beiträgen genommen werden“, sagt Kuratorin Lina Dinkla. Für Kitakinder ist eine bunte Mischung aus Animationsfilmen dabei, für Schulkinder und Jugendliche bieten Dokumentarfilme mit jungen Protagonist*innen vielfältige Einblicke in andere Lebenswirklichkeiten.
Die Doc Alliance Selection präsentiert die Filme Gabi, Between Ages 8 and 13 von Engeli Broberg und Looking for Horses von Stefan Pavlović. Beide Werke waren 2021 für die Doc Alliance Awards nominiert, die am 13. Juli in Cannes verliehen wurden. Das Festivalnetzwerk Doc Alliance wurde 2008 ins Leben gerufen. Ziel der Zusammenarbeit von sieben renommierten Dokumentarfilmfestivals – CPH:DOX Copenhagen, DOK Leipzig, FID Marseille, Doclisboa, Ji.hlava IDFF, Millennium Docs Against Gravity FF und Visions du Réel Nyon – war und ist es, den künstlerisch-kreativen Dokumentarfilm und seine Vielfalt kontinuierlich zu fördern.